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Ab ins Leben – (Tages-)Struktur geben

Stina leistet ein FSJ in der internen Tagesstruktur des LWL-Wohnverbundes in Münster

Stina ist 19 Jahre alt und hat sich nach der Schule für ein FSJ in der internen Tagesstruktur des LWL-Wohnverbundes in Münster entschieden.

Was heißt überhaupt „interne Tagesstruktur“?

Die Tagesstruktur bzw. tagesstrukturierende Maßnahme ist eine Leistung der Eingliederungshilfe für die Menschen, die im LWL-Wohnverbund wohnen, d. h. sie kommen jede Woche an abgesprochenen Tagen zu ihren persönlich vereinbarten Zeiten, damit sie einen geregelten Tagesablauf haben, um so eine eigene Routine zu entwickeln. Das wichtigste Ziel der tagesstrukturierenden Maßnahmen ist die Entwicklung zur möglichst selbständigen individuellen Gestaltung des Tages und die weitestgehende Ermöglichung der Teilhabe an der Gesellschaft. Weitere Ziele beinhalten den Erwerb, die Förderung oder den Erhalt individueller Fähigkeiten in sämtlichen Lebensbereichen.

Die Tagesstruktur ist in verschiedene Bereiche aufgeteilt: der Holz-Bereich, der serielle Bereich, die Service-Gruppe, die Hauswirtschaft, der Kreativ-Bereich und die Begegnungsstätte. Ich habe im Kreativ-Bereich gearbeitet.

Und was sind dann genau deine Aufgaben?

Meine täglichen Aufgaben bestehen darin, dass ich die Leistungsberechtigten hauptsächlich bei ihren Tätigkeiten unterstütze oder sie dabei anleite, d. h. ich nähe mit ihnen zusammen und helfe ihnen, wenn der Stoff mal hakt oder sie sich nicht mehr sicher sind, was der nächste Schritt ist. Außerdem gebe ich ihnen auch Aufgaben und die dafür benötigten Materialien oder helfe ihnen beim Vorbereiten. So habe ich unter anderem sehr engen Kontakt zu den Menschen und unterhalte mich mit ihnen oder sie erzählen mir von ihrem Tag und weiteren Plänen. Zudem haben wir auch ältere Leistungsberechtigte, denen ich beim An- und Ausziehen ihrer Jacken helfe.

Studium oder Ausbildung? Oder doch ein FSJ?

Ich war mir unsicher, ob ich Psychologie studieren möchte bzw. welchen Weg genau ich in Zukunft einschlagen will. Deswegen wollte ich mir erst einmal ein Bild von dem Handlungsfeld der Arbeit mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung machen und sehen, ob mir die Arbeit mit ihnen gefällt. Zudem ist es mittlerweile bekanntlich schwer einen Studienplatz für Psychologie zu bekommen, sodass ich durch das FSJ meine Chancen für einen Studienplatz verbessern konnte.

Depressionen? Schizophrenie? Wie erkennt man sowas?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man den Menschen nicht direkt ansieht, dass sie eine psychische Erkrankung haben und war im Nachhinein meist überrascht, welche Erkrankung bzw. Beeinträchtigung sie haben. Denn Depression und Schizophrenie sind nicht nur so wie in Filmen dargestellt und sie zeigen sich auch von Person zu Person sehr unterschiedlich, was ich persönlich sehr interessant fand. Hier spielen nämlich auch andere Faktoren, wie z. B. der eigene Charakter oder eine weitere Erkrankung, eine wichtige Rolle. Ja, ich konnte sehr viel beobachten in meinem FSJ. Am Ende war meine wichtigste Erkenntnis jedoch, dass die Erkrankung oder Beeinträchtigung dieser Personen hier kaum eine Rolle spielt und man sie keineswegs darauf reduzieren sollte, denn der eigene Charakter und Interessen sind viel wichtiger.


Mit 19 als Autoritätsperson

Mir ist es am Anfang vor allem schwer gefallen mich als Autoritätsperson gegenüber den Leistungsberechtigten darzustellen, da diese mir in Größe, Alter aber natürlich auch Erfahrung überlegen waren. So kam ich mir komisch vor, wenn ich sie daran erinnert habe, bestimmte Regeln zu befolgen. Gleichzeitig war es nicht einfach sich mit den Leistungsberechtigten auf einem passenden Niveau zu unterhalten, weil man möchte sie ja nicht unterschätzen, aber muss trotzdem manche Dinge in einfacher Sprache erklären. Es ist ein schmaler Grat, aber nach einiger Zeit habe ich mich eingelebt und konnte auf diese Herausforderungen in einem angemessenen Rahmen reagieren.


Glücksspringer und Monster-Lesezeichen

Im Laufe meines FSJ durfte ich an vielen Projekten und Aufgaben teilnehmen, sodass ich ganz schnell eine gewisse Eigenständigkeit entwickeln konnte und durch das Vertrauen meiner Praxisanleitung und Kolleg*innen auch irgendwann vieles alleine mit den Leistungsberechtigten machen durfte. Ich habe zwei Sachen, die mir besonders im Kopf geblieben sind und das sind einmal die „Glücksspringer“ und einmal die „Monster-Lesezeichen“.

Die „Glücksspringer“ sind ein Projekt bei dem die Leistungsberechtigten aus alten T-Shirts und Jeanshosen Känguru-Stofftiere mit einer kleinen Tasche am Bauch nähen. Diese werden dann durch eine Organisation den Kindern, die einen neuen Platz in einer der Pflegefamilien gefunden haben, zum Einzug als „Stoffbegleiter“ geschenkt. Bei diesem Projekt habe ich gemerkt, wie viel Mühe sich die Leistungsberechtigten für die Kinder geben und wie gerne sie diese Arbeit machen. Es werden auf kleinste Details geachtet und Arme und Beine werden geprüft bevor sie vernäht werden.

Außerdem habe ich selber nochmal richtig gelernt zu nähen, was mir dann später bei meinem eigenen Projekt, den „Monster-Lesezeichen“, geholfen hat. Bei diesem Projekt habe ich selber die Idee rausgesucht, die Schnittmuster vorbereitet und den ersten Prototypen genäht. Danach habe ich es den Leistungsberechtigten Schritt für Schritt erklärt und mit ihnen zusammen ganz viele wunderschöne und verrückte Monster-Lesezeichen genäht. Das war nochmal eine ganz andere Erfahrung, weil ich den Prozess von Anfang bis Ende – vom Erklären bis zum fertigen Verkaufsstück – begleiten durfte und auch allein verantwortlich war, sodass ich mich in gewisser Weise selber testen konnte.

Und jetzt?

In diesen acht Monaten konnte ich so viel sehen, beobachten, über andere und über mich lernen. Ich habe verschiedene Menschen und deren Geschichte kennenlernen dürfen und war erstaunt, was viele schon erlebt haben, seien es schöne aber auch nicht so schöne Momente. Gleichzeitig habe ich gelernt, wie man mit so etwas umgeht und auch, wie mich sowas mitnimmt oder berührt, sodass ich sehr viel Neues über meinen eigenen Charakter und mein Verhalten gegenüber anderen lernen konnte. Außerdem habe ich in den vier Seminarwochen Freiwillige mit denselben Interessen kennengelernt und so neue Freundschaften schließen können. Am Ende konnte ich so einmal in die Berufswelt hereinschnuppern und sehr viele Erfahrungen sammeln, um schließlich die Entscheidung zu treffen, mich für ein Psychologiestudium im Oktober zu bewerben.

"Ich konnte viel sehen und beobachten. Ich habe verschiedene Menschen und ihre Geschichte kennengelernt, und ich habe gelernt, wie man mit den Schicksalen umgeht, und wie mich so etwas mitnimmt oder berührt, so dass ich viel Neues über meinen eigenen Charakter und mein Verhalten gegenüber anderen gelernt habe", fasst Stina zusammen, was sie von ihrem FSJ mitgenommen hat.